Newsletter Frühjahr 2020

Liebe Leserin, lieber Leser!

Das Coronavirus hält die ganze Welt in ihrem Bann, in allen Lebensbereichen und gerade auch in der Medizin treten Nachrichten aus anderen Themenkreisen unverdient in den Hintergrund. So auch beim Strahlenschutz. Hier hat sich aber viel Berichtenswertes angesammelt, wie Sie gleich sehen werden...

Neues Strahlenschutzgesetz vor Beschlussfassung, Strahlenschutzverordnungen in Begutachtung

Der Entwurf des Strahlenschutzgesetz 2020 wurde am 2. April vom Ministerrat dem Nationalrat zugeleitet und wird vom Umweltausschuss behandelt werden. Der Gesetzesentwurf und die Materialien sind auf der Homepage des Parlaments einsehbar.
Es stellt die schon seit Längerem fällige Anpassung an die EU-Norm 59/2013 dar. Insbesondere wird die darin vorgenommene Unterscheidung von geplanten (z.B. Röntgendiagnostik), bestehenden (z.B. Radon) und Notfallexpositionssituationen umgesetzt, was eine völlige Neustrukturierung dieses Gesetzes erforderte. Bemerkenswert ist weiter die mit dem §11 einhergehende Aufhebung des Verbotes der Beschäftigung von Schwangeren im Strahlenbereich dar, welches durch Vorschreibung des international üblichen Grenzwertes von 1 mSv/a (analog zu Einzelpersonen der Bevölkerung) ersetzt wurde.

Nun müssen für das novellierte Strahlenschutzgesetz auch entsprechende Durchführungsverordnungen erlassen werden. Für diese liegen nun Entwürfe vor, zu deren Begutachtung auch der VMSÖ eingeladen ist. Es sind dies die

• Allgemeine Strahlenschutzverordnung (siehe AllgStrSchV_2020_-_Begutachtungsentwurf; AllgStrSchV_2020_-_Begutachtungsentwurf_Anlagen; AllgStrSchV_2020_-_Erläuterungen; AllgStrSchV_2020_-_WFA)

• Interventionsverordnung (siehe IntV_2020_-_Begutachtungsentwurf; IntV_2020_-_Erläuterungen; IntV_2020_-_Textgegenüberstellung_mit_geltender_Fassung; IntV_2020_-_WFA)

• Radioaktive Abfälle – Verbringungsverordnung (siehe Novelle_RAbf-VV_-_Änderungsentwurf; Novelle_RAbf-VV_-_Erläuterungen; Novelle_RAbf-VV_-_Textgegenüberstellung; Novelle_RAbf-VV_-_WFA)

• Radonschutzverordnung (siehe RadonschutzV_-_Begutachtungsentwurf; RadonschutzV_-_Erläuterungen; RadonschutzV_-_WFA).

Die Begutachtungsfrist endet am 10 Mai 2020.

Nicht Gegenstand des Begutachtungsverfahrens ist die Medizinische Strahlenschutzverordnung, welche 2018 bereits im Hinblick auf das neue Strahlenschutzgesetz novelliert wurde. Für den medizinischen Strahlenschutz von Interesse wird wohl überwiegend der Entwurf der Allgemeinen Strahlenschutzverordnung sein, welche allerdings nur Angelegenheiten regelt, sofern sie nicht anderweitig durch die Medizinische Strahlenschutzverordnung bereits geregelt sind. Die Entwürfe sind auch auf der VMSÖ-Webseite abrufbar.

Der VMSÖ wird eine Stellungnahme zu den genannten Verordnungen ausarbeiten. Interessierte Mitglieder sind herzlich eingeladen, an der Stellungnahme mitzuwirken. Entsprechende Vorschläge bitten wir bis 30. April an das VMSÖ-Sekretariat Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zu schicken.

Erinnerung: Umfrage zur Teleradiologie in Österreich

Alle VMSÖ-Mitglieder haben am 7.4. per E-Mail-Newsletter eine Einladung bekommen, an der durch die ÖRG und dem VMSÖ gemeinsam durchgeführten erstmaligen Erfassung teleradiologischer Anwendungen in Österreich mitzuwirken. Falls Sie diese E-Mail verlegt haben sollten, aber dennoch an dieser Umfrage teilnehmen wollen hier der entsprechende Link: https://de.surveymonkey.com/r/62GCWLY .

VMSÖ-Jahrestagung 2020

(gemeinsam mit dem AK Medizin des Fachverbandes Strahlenschutz [D])
am 9. - 10. Oktober 2020 in Linz

Bei aller derzeit gegebenen Unsicherheit im Rahmen der Coronavirus-Krise gehen wir vorerst davon aus, dass die Tagung wie geplant stattfinden kann.

Derzeit können wir ein Programmgerüst wie folgt angeben (Lage und Inhalt der in Klammern angegebenen Themenkreise vorläufig):

Fr. 9.10.:
10:00-12:30 Arbeitssitzung AK Med (für Mitglieder des AK Med kostenfrei)
13:30 Eröffnung
13:35 -15:05: Sitzung 1 („Frequently asked questions“ bei Strahlenschutzbeauftragten - D vs.A)
15:35-17:20: Sitzung 2 (Dosisdatenerfassung – was bleiben für Probleme; Dosidateneinheiten)
17:20-17:50 Wissenschaftliche Preisverleihungen
18:00-19:00 Deep Space 8K – Anatomie im 3D-Cinematic Rendering (optional, Kapazität begrenzt)
Ab 19:00 Get together in der Sky-Lounge des AEC

Sa 10.10.:
9:00-11:00: Sitzung 3 (Orientierungshife/Zuweisungsleitlinien: A vs. D; Künstliche Intelligenz)
11:30-13:30: Sitzung 4 (Screening – neue Entwicklungen und Auswüchse; Meldung besonderer Vorkommnisse – Nukmed, Radiologie, Kardiologie; D vs. A)
14:30 - 16:00 Sitzung 5 (Defensivmedizin und Strahlenschutz)
16:00 Ende der Tagung
Ab 16:05 VMSÖ Vollversammlung

Das Ende der Bleischürzen am Patienten?

In letzter Zeit sind verschiedene wissenschaftliche Publikationen und Stellungnahmen von Fachgesellschaften herausgekommen, welche ein Überdenken der bisherigen Leitlinien und Praxis bei der Anwendung von Strahlenschutzmitteln veranlassen.

Bei der VMSÖ-Jahrestagung 2018 war es der Vortrag von M. Fiebich, welcher diesbezügliche Überlegungen und Berechnungen in Deutschland vorstellte.

Die Deutsche Strahlenschutzkommission hat Ende 2018 tatsächlich eine darauf basierende Empfehlung zur Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln bei der diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen herausgegeben https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse/2018/2018-12-13Patienten.html?nn=2332186

Am 2.4.2019 hat auch die AAPM (American Association of Physicists in Medicine) eine Empfehlung herausgegeben, welche empfiehlt, Bleischürzen am Patienten nicht mehr zu verwenden (https://www.aapm.org/org/policies/details.asp?id=468&type=PP )

Auch eine Empfehlung der Niederländischen Gesellschaft für Medizinische Bildgebung und Radiotherapie (NVMBR), kommt zur Konklusion: „… gonad shielding is not required in the majority of the exams. For some CT procedures, the risks are not negligible. Unfortunately, the gonads are in these situations within the direct exposed area. Therefore, the gonad shielding would cause too many artefacts and diminish image quality.”
Im open-access-Journal der Europäischen Röntgengesellschaft erschien Anfang dieses Jahres ein Übersichtsartikel (Jeukens et al. Insights into Imaging [2020]11:15 https://doi.org/10.1186/s13244-019-0828-1 , welcher die Entwicklung des Gonadenschutzes übersichtlich darstellt und angesichts der neueren strahlenbiologischen Erkenntnissen zu Folge schwindenden Bedeutung des hereditären Strahlenrisikos ebenfalls resümiert: “Today, using a modern and optimised X-ray system, gonad shielding can be safely discontinued for women. For men, there might be a marginal benefit, but potential negative side-effects may well dominate. Discontinuation of gonad shielding seems therefore justifiable.”

Die aktuellste Stellungnahme gegen die Verwendung von Strahlenschutzmitteln am Patienten ist jene des British Institute of Radiology: https://www.bir.org.uk/education-and-events/patient-shielding-guidance.aspx

Aus Sicht des VMSÖ sollten diese Empfehlungen sorgsam gesichtet und gegebenenfalls auch in Österreich die Praxis der Anwendung von Strahlenschutzmitteln reevaluiert werden. Gegebenenfalls sollte dies auch zu einer Überarbeitung gesetzlicher Festlegungen führen - ohne allerdings „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass die Beendigung einer jahrzehntelang geübten Praxis einen zusätzlichen Aufwand bei der Aufklärung der PatientInnen mit sich bringt, wie dies u.a. unlängst im englischsprachigen Raum eine breitflächig in den sozialen Medien ausgetragene Kontroverse über den Schildddrüsenschutz bei der Mammographie gezeigt hat: https://www.radiologybusiness.com/topics/care-delivery/mammography-thyroid-shielding-radiologist

Rückläufige Untersuchungszahlen und resultierende Kollektivdosis durch Röntgenuntersuchungen in den USA

Mettler FA, et al: Patient Exposure from Radiologic and Nuclear Medicine Procedures in the United States: Procedure Volume and Effective Dose for the Period 2006–2016. Radiology 2020 https://doi.org/10.1148/radiol.2020192256

Trotz einer um 24 Millionen Personen gestiegenen Bevölkerung bleib die Zahl der jährlichen Röntgenuntersuchungen bei ca. 377 Millionen. Auch die Zahl der CT-Untersuchungen stagniert seit etwa 2010, während die Zahl der übrigen Untersuchungen fiel. Die durchschnittliche jährliche Bevölkerungsdosis aus medizinischer Bildgebung sank von 2.9 mSv 2006 um ca. 20% auf 2.3 mSv 2016. Dieser Trend ist nicht auf die USA beschränkt, z.B. auch in jüngeren Erfassungen in Deutschland beobachtbar (dazu ein anderes Mal mehr). Ursache dürfte eine Kombination aus Zahlungslimitierungen durch Krankenversicherer, Wirkung von Zuweisungsleitlinien sowie technischer Entwicklungen sein.

Ist jetzt alles in Ordnung, brauchen wir uns bald keine Gedanken mehr über die Strahlenexposition unserer Patientinnen und Patienten machen? Nicht wirklich. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil davon ist einer hohen Zahl an Untersuchungen mit daraus resultierender Kumulation relativ hoher Strahlendosen betroffen.

Mehr Augenmerk auf die Dosiskumulation bei Röntgenuntersuchungen

Die Europäische Röntgengesellschaft (ESR) hat jüngst auf mehreren Ebenen Augenmerk auf dieses Problem gelegt.
Beim – aufgrund der Coronavirus-Krise nunmehr in Form einer reinen Online-Veranstaltung auf 15.-19.Juli 2020 verschobenen - Europäischen Röntgenkongress ist eine eigene EuroSafe Imaging Session mit dem Titel „Cumulative dose: too often and too much“ geplant (https://event.crowdcompass.com/ecr2020/activity/8hDDlOzOHo - Login überspringbar).

In der April-Ausgabe von „European Radiology“ erscheinen zwei Originalarbeiten unter der Führung von Madan Rehani, des ehemaligen Leiters der medizinischen Strahlenschutzabteilung der IAEA in Wien (und als solcher gern gesehener höchstrangiger Vortragsgast bei mehreren VMSÖ-Jahrestagungen):

- Patients undergoing recurrent CT scans: assessing the magnitude (Eur Radiol [2020] 30:1828–1836): Es wurde die automatische Dosisdatenerfassung aus vier Institutionen, welche alle über eine zwei- bis dreistellige Anzahl an CT-Geräten zusammenfassten, von insgesamt 4,8 Millionen CT-Untersuchungen an 2,5 Millionen Patienten ausgewertet. Die Untersuchungen stammten aus 324 Krankenhäusern, zum Teil aus den USA, zum Teil aber auch aus der Slowakei, wo eine landesweite automatische Dosisdatenerfassung an einem Großteil der CT-Geräte stattfindet. 1,33% der Patienten bekam innerhalb von 1-5 Jahren alleine aus diesen CT-Untersuchungen kumulierte Effektivdosen von > 100 mSv (Median 130, Maximum 1185). Ca. 20% dieser Patienten war jünger als 50 Jahre. In allen vier Institutionen gab es Patienten, welche eine Effektivdosis von > 100 mSv an einem einzigen Tag erreichten.

- Patients undergoing recurrent CT exams: assessment of patients with non-malignant diseases, reasons for imaging and imaging appropriateness  (Eur Radiol [2020] 30:1839–1846):
Aus der oben genannten Arbeit von jenen Patienten welche innerhalb von 5 Jahren > 100 mSv Effektivdosis aus CT-Untersuchungen bekommen hatten, wurden 8952 Patienten aus einer der untersuchten Institutionen (dem Massachusetts General Hospital, Harvard Medical School, Boston) genauer hinsichtlich der Untersuchungsindikation betrachtet. 861 (9,6%) dieser Patienten wurden wegen nicht-maligner Erkrankungen untersucht, 123 davon waren 40 ≤ Jahre alt. Bei letzterer Gruppe wurde eine Analyse der Angemessenheit der jeweiligen Untersuchungsindikation versucht, teils mittels manueller Fallanalyse, teils automatisierten Ergebnissen des seit 2016 an dieser Institution verwendeten clinical decision support-Systems (CDS). Lediglich 2% der Untersuchungen wurde eindeutig als unangemessen eingestuft, allerdings waren auch nur 27% der Untersuchungen in der Kategorie „üblicherweise angemessen“; für einen beträchtlichen Teil der Untersuchungen hingegen existieren keinerlei Zuweisungsleitlinien; lediglich etwa die Hälfte der Untersuchungen waren Kontrolluntersuchungen einer chronischen Erkrankung.
Die Autoren leiten folgende Forderungen für künftige Forschungsfelder ab:
- Reduktion der Dosis der einzelnen CT-Untersuchungen, gleichbedeutend mit der Forderung nach der „Submillisievert-CT“;
- Entwicklung von mehr Zuweisungsalgorithmen für zahlreiche Fragestellungen, welche davon bisher nicht erfasst sind;
- ein Strahlenrisikomanagement, welches ähnlich effektiv ist wie das Sicherheitsmanagement in der Luftfahrt, im Autoverkehr oder der Arbeitsplatzsicherheit, mit genauerer Abschätzung des Nutzen-Risikoverhältisses medizinischer Untersuchungen;
- intensivere epidemiologische und strahlenbiologische Untersuchung des Risikos von Kumulativdosen über 100 mSv;
- sowie insgesamt mehr wissenschaftliches Augenmerk auf die Dosiskumulation insbesondere auch dann, wenn (noch) kein automatisches „Clinical Decision Support-System“ verfügbar ist.

Die Bedeutung dieser beiden Arbeiten wird durch zwei darauf Bezug nehmende Editorial Comments in dieser Ausgabe unterstrichen:
Lee, C. How to estimate effective dose for CT patients. Eur Radiol 30, 1825–1827 (2020). https://doi.org/10.1007/s00330-019-06625-7 
sowie
Remedios, D. Cumulative radiation dose from multiple CT examinations: stronger justification, fewer repeats, or dose reduction technology needed?. Eur Radiol 30, 1837–1838 (2020). https://doi.org/10.1007/s00330-019-06624-8

Weiters interessant

- Draft report on Radiation Detriment Calculation Methodology der ICRP:
Abrufbar auf www.icrp.org. Die Begutachtungsfrist endet dafür am 1.Mai 2020.

- International Conference on Radiation Safety: Improving Radiation Protection in Practice
IAEA Headquarters Vienna, Austria, 9–13 November 2020
https://www.iaea.org/events/international-conference-on-radiation-safety-2020

 

Herzlichst, Ihr/Ihre

OA Dr. Gerald Pärtan (Präsident des VMSÖ)
OÄ Dr. Elke Dimou (Chefredakteurin)